Gesellschaft

Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lautenbach - ein Musterbeispiel für soziale Verantwortung

INTERVIEW | "Was manchem gewöhnlich erscheint, ist für andere ein Geschenk" - in Lautenbach leben Menschen mit Assistenzbedarf in Hausgemeinschaften. Die integrative Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gibt Unterstützung bei den Herausforderungen des Alltags.

INTERVIEW | "Was manchem gewöhnlich erscheint, ist für andere ein Geschenk" - in Lautenbach leben Menschen mit Assistenzbedarf in Hausgemeinschaften. Die integrative Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gibt Unterstützung bei den Herausforderungen des Alltags.

20.06.2017

LifeVERDE: Frau Treubel, Lautenbach ist eine integrative Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Was darf man sich darunter genau vorstellen?

Veronika Treubel: In Lautenbach und seinen weiteren Standorten in Überlingen, Großschönach und Stockach leben über 200 Menschen mit Assistenzbedarf in rund 20 integrativen Hausgemeinschaften. Über 200 Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer unterstützen und begleiten sie in ihrem Alltag bei allen Herausforderungen des Lebens - nicht zuletzt darin, dass sie so frei und selbst bestimmt leben und arbeiten können wie möglich. Was manchem vielleicht gewöhnlich erscheint, ist für andere ein Geschenk: morgens aufstehen, in der Familie oder Gemeinschaft frühstücken, zur Arbeit gehen, Kollegen treffen und später in der Freizeit Freunde treffen für gemeinsame Unternehmungen. Diese Normalität erhält vor allem dann einen besonderen Wert, wenn sie nicht selbstverständlich ist. Für Menschen mit Assistenzbedarf zum Beispiel. Diese Normalität wird ihnen in Lautenbach ermöglicht. Sie sind integriert ins Dorfgeschehen im kleinen Weiler Lautenbach!

Wie und mit welcher Motivation ist die Idee zur Dorfgemeinschaft Lautenbach entstanden?

Als der Waldorflehrer und Sozialtherapeut Hans Dackweiler gemeinsam mit seiner Frau Marga und seinem fünfköpfigen Team vor über 40 Jahren die integrative Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lautenbach gegründet hat, wollte er eine Lücke schließen in der Betreuung und Vorbereitung von jungen Menschen mit Assistenzbedarf auf die Arbeitswelt. Was er damals schuf, war ein komplett neues Konzept. Denn damals endete die Schulpflicht für Jugendliche mit 16 Jahren. Die Aufnahme in die beschützenden Einrichtungen war aber erst ab 18 Jahren möglich. Für Hans Dackweiler, der bis dahin in der Dorfgemeinschaft Lehenhof wirkte, ein unhaltbarer Zustand. Ein Konzept für die Betreuung hatte er schon lange ausgearbeitet. Fehlte nur noch ein geeigneter Standort. In Großschönach wurde er fündig. Im Winter 1970 wurde der heutige Brunnenhof umgebaut, die ersten Jugendlichen zogen ein, die Schule und die ersten Werkstätten nahmen ihren Betrieb auf. Die Dorfgemeinschaft Lautenbach war gegründet.Schnell erwies sich das integrative Konzept des gemeinsamen Wohnens, Lebens und Arbeitens von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf als Erfolgsmodell. In den folgenden Jahren wurden neue Häuser gebaut und weitere Werkstätten in Betrieb genommen. Und auch heute noch wächst und entwickelt sich Lautenbach stetig weiter. Nicht nur vor Ort, sondern an allen seinen Standorten. Und mit allen Menschen, die Lautenbach verbunden sind.

Wie erfolgreich ist Ihr Konzept und worauf sind Sie und Ihr Team besonders stolz?

Wir halten unser Konzept für sehr erfolgreich! In den mittlerweile fast 46 Jahren haben wir es - wie bereits erwähnt - weiter entwickelt und zukunftsfähig gemacht. Das ist für uns sehr wichtig, denn Lautenbach soll auch in Zukunft ein Ort sein, an dem sich die Menschen mit Assistenzbedarf und die betreuenden Mitarbeiter in den Wohngruppen und Werkstätten wohl fühlen können. Geborgenheit, Anerkennung und Wertschätzung - das ist es doch, was wir uns alle wünschen. Besonders stolz sind wir auf unsere Eigenprodukte und die Menschen, die sie herstellen. Lautenbach ist für viele Menschen eine Chance. Natürlich für die Menschen mit Assistenzbedarf, aber auch für die begleitenden Mitarbeiter. Denn Lautenbach ist ein attraktiver Arbeitgeber und eine anerkannte Ausbildungsstelle für Heilerziehungspfleger, für Landwirte, Gärtner, Schreiner, Weber und Berufe, die wir über unsere Werkstätten abdecken. Langweilig wird es hier sicher nicht!

Lernen und Entwicklung spielt in Lautenbach eine besondere Rolle, wie funktioniert das bei Ihnen?

Eine Besonderheit stellt unser duales Lernangebot für die Schüler dar: Jedes der 4 "Lern"-Jahre ist einem speziellen Bereich gewidmet. Im ersten Lehrjahr erleben die Jugendlichen, wie sinnstiftend die Tätigkeit in der Urproduktion ist, also zum Beispiel in der Landwirtschaft, in der Grünpflege oder in der Gärtnerei. Das zweite Lehrjahr widmet sich dem Handwerk und dem Beschnuppern unserer Werkstätten. Und zuletzt, im dritten Lehrjahr, erhalten die Schüler Einblicke in die dienstleistenden Bereiche - dies ist im Café, im Lädele, im Versand möglich. Wer hat welche Begabungen und Talente, welche Interessen und Fähigkeiten haben sich entwickelt? Auf diese Fragen gibt das duale Lernangebot Anworten. Eine bessere Entscheidungshilfe für die spätere Arbeitsplatzwahl können wir uns für unsere Schüler kaum vorstellen. Für die Mitarbeiter bietet Lautenbach als Arbeitgeber jedes Jahr eine Fülle an Fortbildungen und Vorträgen an, die speziell auf unsere Themen abgestimmt sind. Das Kennenlernen und Begreifen der verschiedenen Behinderungsbilder sei hier kleines Beispiel genannt.

Sie betreiben sogar einen eigenen Online-Shop. Was ist das Besondere an den Produkten?

Arbeit schafft Werte. Und nach Rudolf Steiner gilt die Arbeit sogar als die sozialste Situation überhaupt. Und wir finden: Das stimmt! Jedes einzelne Teil  unserer Produkte ist von vielen Händen bearbeitet worden, ausgenommen natürlich die Teile, die wir zukaufen müssen, weil wir sie nicht selber herstellen können wie z.B. die Räder für unsere Fahrzeuge. In jedem Produkt ist die Intensität und die Hingabe zu spüren, mit der unsere Mitarbeiter am Werk sind. Unsere Produkte sind WERTvoll, weil sie aus solider Handarbeit und fundiertem handwerklichen Geschick entstehen. Und nicht zuletzt aus dem Lautenbacher Geist. Unsere Spielzeuge z.B. sind für Generationen gemacht, denn sie sind äußerst robust.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie aktuell?

Die größten Herausforderungen seit Bestehen unseres Lebens- und Arbeitsgemeinschaft sind die Umsetzung der Heimbauverordnung und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Gemäß der Heimbauverordnung muss die Wohnraumgröße mindestens 14 qm betragen. Wir sind seit über 5 Jahren dabei, unsere Wohngruppen Zug um Zug umzubauen, um dieser Verordnung gerecht zu werden. Das bedeutet: Jedes Jahr ziehen ein bis zwei Gruppen in ein "Übergangs"-Haus, damit ihr Haus umgebaut werden kann. Diese Umzüge und die Eingewöhnungsphasen sind für die Menschen mit Assistenzbedarf und für die betreuenden Mitarbeiter eine echte Herausforderung. Das Bundesteilhabegesetz (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung), kurz - BTHG - wurde am 16.12.2016 vom Bundestag verabschiedet. Es greift den Geist der UN-Behindertenrechtskonvention in seiner Zeilsetzung und Ausgestaltung auf. Die Umsetzung erfolgt stufenweise bis zum 1.1.2023. Zentrale Punkte sind die Mitwirkungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen, die Neugestaltung der Eingliederungshilfe, Verbesserungen im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben u.v.m. Im Sommer 2017 wird von unseren betreuten Mitarbeitern zum ersten Mal eine Frauenbeauftragte für unsere WfbM gewählt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Schwerbehindertenvertretungen weiter zu stärken und zeigt, dass wir mit der Umsetzung des BTHG gestartet sind.

Wie kann man sich an Ihrer Dorfgemeinschaft beteiligen oder sie unterstützen?

Wir freuen uns sehr, wenn unsere Produkte gekauft werden. Entweder beim gut sortierten Spielwarenfachhändler (die gibt es mittlerweile ja auch im Internet), in unserem Onlineshop oder beim Kindergartenausstatter. Das zeigt unseren betreuten Mitarbeitern, dass ihre Arbeit geschätzt wird. Für die aktuellen und noch kommenden Herausforderungen müssen wir natürlich auch Eigenmittel aufwenden und sind deshalb für Spenden sehr dankbar.  Und natürlich durch viele Likes auf unserer Facebook-Seite, damit Lautenbach einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht.

Verraten Sie uns, was es künftig Neues von Ihnen geben wird?  

Unsere Produktentwicklungsgruppe arbeitet gemeinsam mit den Werkstätten permanent an neuen Produkten. Im letzten Jahr lag der Fokus auf Produkten für Draußen - für den Garten, die Terrasse oder den Rasen. So sind Pflanzkästen aus Ton entstanden, die unsere betreuten Mitarbeiter sehr kreativ mit Motiven gestalten. Oder ein Beistelltisch, dessen Tischplatte ganz individuell von unseren besonderen Mitarbeitern geschaffen werden. Dekosteine für den Rasen aus schwarzem Ton sind die neuesten Kreationen unserer Tonwerkstatt und werden demnächst im Onlineshop erscheinen.



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